Dietrich Bonhoeffer und ich

„Es ist eine Umwälzung der Moral. Alles Feste wird unsicher, alles Selbstverständliche wird fragwürdig. Alles scheint beliebig. Dem Chaos ist Tür und Tor geöffnet. Gleichzeitig entsteht das Bedürfnis, unter dem Schrotthaufen verbrauchter und weggeschmissener Werte wieder die Wahrheit zu finden!“ schrieb Alois Prinz in seinem Buch „Dietrich Bonhoeffer – sei frei und handle!“ 

Genauso, wie der Pfarrer Bonhoeffer die Situation schilderte, als er mit seinen Studenten auf dem Weg zum Bahnhof war. Seine Studenten gingen einfach über die Gleise, während er provokant den Umweg über eine Holzbrücke nahm, also den eigentlichen Weg wählte. Ihn schmerzte jede kleinste Unordnung. Und in Deutschland war damals viel Unordnung. (Zitat Ende)

Dies beschreibt die Jahre zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg. Deutschland brauchte eine neue Regierung, eine demokratische Regierung, das Kaiserreich war abgeschafft. Sie brauchten jemanden, der wieder stark genug ist, um das Land zu führen. Dieser war in Hitler und seiner Partei bald gefunden. Was dann passierte, ist uns allen bekannt. 

Ich lese das Buch schon einige Monate, stückweise, also immer dann, wenn mir ein Zeitfenster übrig bleibt. Mich fasziniert zum einen das „normale“ Leben dieses Märtyrers Bonhoeffer. Er liebte die Musik, spielte gerne Klavier und Tischtennis. Er rief einen Chor ins Leben und leitete Kindergottesdienste. Ich kann mich gut mit ihm identifizieren, Zitat: Er war ein Einzelgänger, aber kein Außenseiter, gerne in Gesellschaft und ein beliebter Gesprächspartner, und manchmal waren ihm die Menschen zu viel und er zog sich zurück in die Einsamkeit. (Zitat Ende)

Tatsächlich war er ein verwöhnter, reicher und behüteter junger Mann. Auf eigenen Beinen zu stehen, ohne dass die Familie Bonhoeffer im Hintergrund mitbestimmte, war sein innigster Wunsch. Während die Menschen um ihn herum mit Krieg und Politik beschäftigt waren und seine Brüder Soldaten wurden, wagte er es nach draußen in die große weite Welt als Theologiestudent. Alles das, um seinen Glauben an Gott zu vertiefen und einen eigenen Standpunkt zu finden. Doch unvorstellbar die Widerstände, auf die er stieß. Aber genau das ist ja, diese „Vertiefung“. Widerstände vertiefen uns Christen.  

Doch mit dem anfänglichen Theologiestudium konnte er seine persönlichen Lebensfragen nicht verbinden. Schnell merkte er, dass er gegen den Strom der sogenannten „liberalen Theologie“ schwimmen musste, zum Entsetzen seines damaligen Professors. Zitat: Dieser stand für die feste Bindung der Theologie an die Wissenschaft. Seinem Credo zufolge blieb alles nur Gefühlsmäßige, Unbewusste untermenschlich, solange es nicht von der Vernunft begriffen und gereinigt wurde. Eine Theologie, die sich von der Vernunft trennte, durfte es für ihn nicht geben (Zitat Ende). Bis vor Kurzem konnte ich mit dieser liberalen Theologie nichts anfangen, obwohl es sie schon sehr lange gibt. Erst als ich mit ihr in Berührung kam, fing ich an, darüber nachzudenken. Naiv dachte ich, wer Theologie studiert, kennt die Bibel, das Leben und Gott selbst. Wie es gelebt und gepredigt wird, ist wiederum eine andere Sache. Doch wenn Gott nur aus der Vernunft heraus gepredigt wird, das Wort verwischt, aus dem Kontext gerissen und vieles Übernatürliche geleugnet wird, habe ich exakt zwei Bedürfnisse. Entweder ich stehe auf, gehe nach vorne, verweise den Pastor der Kanzel und predigte selbst oder ich laufe weg. Da ich wenig mit Theologie am Hut habe und Vordrängeln mir nicht liegt, sondern lediglich Gott im Herzen trage, bleibt Weglaufen erst einmal die einzige Option. Ich kenne ja meinen Vater. Was erlauben sich andere, verdreht und unzureichend von ihm zu reden?

Die nächsten Widerstände, die sich Bonhoeffer in den Weg stellten, waren die Kirchen selbst. Unter den schlimmsten Kriegstreibern haben sich viele Kirchen und Theologen befunden. Zitat: Statt auf Distanz mit den Mächtigen zu gehen und die Werte der Bibel zu verteidigen, hatten sie dem Krieg eine höhere Weihe verliehen, Kanonen gesegnet, das Töten geheiligt und die Gegner Deutschlands verteufelt. (Zitat Ende) 

Auch wenn es für Bonhoeffer zunehmend gefährlicher wurde, hatte er mittlerweile seinen eigenen Standpunkt gefunden und die Hörsäle mit seinen Vorträgen eingenommen. Nämlich, dass es unvereinbar mit der christlichen Botschaft war, Menschen aufgrund ihres Geschlechts, Nationalität oder Religion aus den Gottesdiensten und dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Für Jesus zählt allein der Glaube. Der Glaube an einen gerechten Gott, dem wir nur als Empfänger und Hörender dienen können. Denn niemand kann zu Gott kommen oder über ihn verfügen, wie es die Kirchen versuchten, sondern durch Jesus Christus erst, dürfen wir in Gottes Nähe kommen. Kirche war für Bonhoeffer eine Gemeinschaft mit Fremden, mit Außenseitern und Schwachen. Wie sagt es Jesus: „Die Kranken brauchen den Arzt, nicht die Gesunden.“ Durch unsere Schwäche und Demut kann sich Gott verherrlichen.
 
Bonhoeffer hatte Anhänger. Welche, die sich gegen die Werte des Nationalsozialismus stellten. Werte, die durch ihre Ideologien die Menschen unempfindlich machten für das Mitleid anderer. Nicht der Einzelne zählt, sondern das Volk. Anhänger, die sich für die Werte der Bibel entschieden. Einem Christentum, das mitten in der Welt gelebt wird, im Nahkampf durch die Nächstenliebe, Vergebung und gute Tat. Mitten im Alltag, nicht nur sonntags. Und besonders ein „gegen den Strom schwimmen“ in schwierigen Zeiten. Leben Bonhoeffers bleibt spannend. Selbst als er schon im Gefängnis saß und in der ersten Zeit verzweifelt war, gewann er bei den anderen Gefangenen hohes Ansehen. Sie suchten seine Nähe und baten um Gebet. Wer Dietrich Bonhoeffer kennt, weiß, dass er für die Werte des Christentums mit seinem Leben bezahlt hat. Nein, ich will es anders ausdrücken. Er gab sich Jesus hin, so wie Jesus sich für uns hingegeben hat. Oder um es mit Bonhoeffers Worten zu sagen: Sich Gott „ganz in die Arme“ zu werfen. 

„Sei frei und handle!“ – von Alois Prinz. Ist sein Werk nur ein altes Buch im Regal, oder eine zeitlose Botschaft mit aktueller Relevanz? 

In Christus sind wir alle gleich. Hier ist nicht Sklave, noch Freie, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus. (Galater 3,28)

März 2025